Hilfe fürs Leben in der Dunkelheit
Thorsten Graf (31) sitzt auf der Couch in seinem Wohnzimmer, einen Stapel frisch gewaschene Tisch- und Bettwäsche hat er vor sich auf den Tisch gelegt. Überaus sorgfältig, manchmal ein wenig zögerlich, legt er schließlich die Kopfkissen zusammen, faltet ein paar Handtücher, und zum Schluss werden noch einige Trockentücher ordentlich zu kleinen Rechtecken zusammengelegt. Thorsten Graf erledigt diese Arbeit mit großer Muße und Sorgfalt, unterhält sich dabei mit Iris Schumann (51), die ihrem Nebenmann auf der Couch große Aufmerksamkeit schenkt.
Der junge Mann ist seit frühester Kindheit blind, der Umgang und die Pflege seiner Wäsche, oder auch das identifizieren von Geldscheinen oder –münzen, wie auch die Verarbeitung von Lebensmitteln fällt ihm daher nicht immer leicht. Genau dass ist auch der Grund, warum Iris Schumann viele Stunden mit dem jungen Mann verbringt. Sie ist ausgebildete Reha-Lehrerin für blinde und stark sehbehinderte Menschen und besucht Thorsten Graf zwei Mal pro Woche, um ihm ergänzende lebenspraktische Fähigkeiten zu vermitteln. Und Graf ist ein überaus ehrgeiziger Schüler, wie übrigens die meisten Menschen mit Behinderungen. „Ich will soweit es geht selbständig und eigenverantwortlich leben“, nennt er den Grund und genau darum habe er auch ein weiteres Mal diese Schulung beantragt.
Thorsten Graf lebt in Hamburg zusammen mit ein paar anderen jungen Männern in einer sogenannten ambulantisierten Wohngruppe. Dies bedeutet, dass die Bewohner zwar regelmäßig eine sogenannte Wohnassistenz erhalten, letztlich aber doch im Großen und Ganzen selbständig ihr Zusammenleben organisieren. „Und das ist gut so“, ist Graf sicher.
Iris Schumann arbeitet im Auftrag des Iris-Instituts, wobei Iris in diesem Zusammenhang für „Institut zur Rehabilitation und Integration Sehgeschädigter“ steht. Gegründet wurde diese Einrichtung bereits Ende der 1970er Jahre in Hamburg von dem us-amerikanischen Ehepaar Pamela und Dennis Cory. Die hatten damals ihren Wohnsitz nach Hamburg verlegt und bemerkt, dass es um die Integration sehbehinderter Menschen in der Hansestadt nicht gut bestellt war. Durch ihre Schule sollen Menschen mit Sehproblemen die Chance erhalten, Fähigkeiten und Strategien zu erlernen, die ihnen helfen, trotz ihres schweren Schicksals den Alltag meistern zu können. Es geht dabei vor allem um die Vermittlung von Orientierung und Mobilität, und um die blindenspezifische Schulung lebenspraktischer Fähigkeiten. Diese Lehrgänge werden überwiegend im Einzelunterricht durchgeführt und sind daher sehr zeit-, personal- und kostenaufwändig. Aber, und darum geht es, durch die Kurse erfahren blinde und sehbehinderte Menschen ein hohes Maß an persönlicher Bewegungsfreiheit und damit einen Gewinn an Unabhängigkeit und Stärkung des Selbstwertgefühls.
Im Iris-Institut werden auch Rehabilitationslehrer ausgebildet, um das Angebot an Schulungen und Lehrgängen möglichst vielen Menschen mit Sehbehinderungen zugänglich machen zu können.
Reha-Lehrerin Iris Schumann betreut parallel sechs sehbehinderte und blinde Menschen. Thorsten Graf ist ihr jüngster Schüler und eine erst kürzlich erblindete 86 Jahre alte Dame ihre älteste. „Die Anforderungen sind schon sehr unterschiedlich“, erklärt Iris Schumann, und dies habe vor allem damit zu tun, dass spät erblindete Menschen über einen soliden Fundus an praktischen Lebenserfahrungen im Alltag verfügen würden, während geburts- oder frühblinde Menschen darauf nicht zurückgreifen können.
Thorsten Graf hat es bereits gebracht. Schlafwandlerisch bewegt er sich in der Wohngruppe, organisiert mal schnell einen Kaffee oder kümmert sich um das Essen oder Einkaufen. Sein ein und alles aber ist die Musik. Seit frühester Jugend hat sich der junge Mann der Mucke verschrieben, spielt inzwischen Instrumente in zwei Bands und singt im Chor. Rund um die Hamburger Region sind die „Living Music Box“ und die „sounddrops“ musikalisch längst zum Begriff geworden. Und auch um die Musik möglichst unabhängig und selbständig betreiben zu können, haben die intensiven Iris-Schulungen für Thorsten Graf ihren Beitrag geleistet. „Das ist sicher so“, sagt er dazu fröhlich. Wolfgang Henze