Lernen kann Spaß machen. Foto: Robert Bosch Stiftung/Theodor Barth

Lernen kann Spaß machen. Foto: Robert Bosch Stiftung/Theodor Barth

Die Waldschule gehört zu den sechs besten Schulen in Deutschland und wurde jetzt von der Robert Bosch Stiftung im Rahmen des Schulpreises 2015 mit 25.000 Euro ausgezeichnet. Hauptpreisträger ist die Gesamtschule Barmen in Wuppertal/Nordrhein-Westfalen.

Manchmal kommen so viele Besucher in die Flensburger Waldschule, dass sich der ein oder andere Lehrer etwas weniger Prominenz wünschen würde. Rund tausend Lehrer von anderen Schulen, Professoren, Experten und Journalisten haben sie in den vergangenen fünf Jahren durch das Schulgebäude, einen imposanten Klinkerbau der Jahrhundertwende, geschleust. Eine Zeitlang waren es so viele, dass einer Kollegin gar der Kragen platzte: „Wir sind doch hier nicht im Zoo!“
Volker Masuhr sieht das etwas anders. Natürlich sei es nicht einfach, so viele Gäste zu empfangen, sagt der 59-Jährige Leiter der Flensburger Grundschule. „Aber wer die Qualität steigern will, muss auch an Marketing und Vertrieb denken.“ Es ist einer dieser Sätze von Masuhr, über die man schmunzeln muss. Marketing und Vertrieb? An einer Grundschule?

Volker Masuhr, Sakko und Jeans, zieht einen Ordner aus dem Schrank, schlägt ihn auf und deutet auf eine Statistik. Sie zeigt die Entwicklung der Schülerzahlen aller Grundschulen in Flensburg in den vergangenen Jahren: Neun Linien weisen nach unten. Eine einzige wandert empor: Die Waldschule wächst. 2006, als Masuhr sein Amt antrat, zählte sie 220 Schüler, viele davon aus der Nordstadt, einem der schwierigsten Viertel Flensburgs. „Wir hatten viele auffällige und wenig starke Schüler“, sagt Masuhr. Der Unterricht wurde oft gestört, das Kollegium wusste nicht weiter – und schon war es da, dieses Wort: „Problemschule“.

Jetzt, neun Jahre später, besuchen 330 Jungen und Mädchen die Waldschule. Sie kommen aus ganz Flensburg, auch aus der Westlichen Höhe, einem der wohlhabendsten Viertel der Stadt.

Ein wachsender Teil der Schüler wechselt nach der vierten Klasse aufs Gymnasium, immer weniger auf die Hauptschule. „Wir haben aus der Abwärtsspirale eine Aufwärtsspirale gemacht“, sagt Volker Masuhr stolz.

Erste Stunde nach den Osterferien: Morgenkreis. Die „Delfine“, ein Lernverband aus Erst- und Zweitklässlern, stehen im Kreis zusammen. Julia, eine Schülerin, leitet das Ritual. Sie begrüßt die anderen Kinder, dann zählen sie reihum auf Englisch: one, two, three, four, five, six – Stille: Lukas* ist dran und schaut zu Boden. Er ist ein Schüler mit Förderbedarf. In jeder Klasse der Waldschule gibt es mindestens einen Jungen oder ein Mädchen, die besondere Unterstützung brauchen. Das englische Wort für „sieben“ fällt Lukas nicht ein, also flüstert es ihm sein Nebenmann Jonas ins Ohr. „Seven“, sagt Lukas. Die Zählung kann weitergehen.

Später sagt die Klassenlehrerin Marnie Pietrzak zu Lukas: „Du bist ein bisschen unruhig heute. Willst Du mal kurz mit Jonas rausgehen?“ Lukas nickt. Es gibt zwar eine Integrationsassistentin, aber mit Jonas loszuflitzen, das findet Lukas natürlich viel besser, und einen Augenblick später sind die beiden weg. Als sie nach einer Runde um den Schulhof zurückkehren, ist Lukas viel ruhiger. „Kein Mitschüler würde das für sich einfordern“, sagt Marnie Pietrzak.

„Die Kinder haben begriffen, dass für Lukas eben manchmal etwas andere Regeln gelten.“ Ob Überflieger oder Kind mit besonderem Förderbedarf, ob Schüler mit oder ohne Migrationshintergrund, ob Akademikertochter oder Arbeitersohn: „Unser Motto ist: Es ist normal, verschieden zu sein“, sagt Volker Masuhr. Und die Beliebtheit der Schule zeigt, dass hier, an der Grenze zu Dänemark, auch viele Eltern verstanden haben, was in Skandinavien längst als unbestritten gilt: Starke Schüler können vom gemeinsamen Lernen mit weniger starken Klassenkameraden profitieren. Und dass man soziale Verantwortung am besten in einer Gruppe lernt, die die Gesellschaft in ihrer Vielfalt abbildet.

Ideen, die Volker Masuhr schon kannte, als es das Wort „Inklusion“ noch lange nicht gab. Früher leitete der Sonderpädagoge eine Förderschule, 2006 kam das Angebot der Waldschule, gepaart mit dem Wunsch des Landes, hier etwas zum Positiven zu drehen. Masuhr, einst Handballer in der Bundesliga, begriff die Krise als Chance, die Schule völlig neu aufzustellen. Ob Klassenstufen, Frontalunterricht oder Schulnoten: Alles wurde zur Debatte gestellt. „Ich wollte eine Schule, in der Kinder Verantwortung tragen“, sagt er. Er weiß aber auch: Wer die Eigenständigkeit und Partizipation aller fördern will, braucht auch einen gewissen Anteil starker Schüler.

Masuhr entschied sich für einen ungewöhnlichen Schritt: Kurz nach Amtsantritt engagierte er eine Zirkusschule, die mit den Schülern ein Programm trainierte. 12.000 Euro sollte das Projekt kosten, ein Sponsor trug einen Teil, doch ein Kostenrisiko blieb. Sie stellten ein Zirkuszelt auf dem Schulhof auf und rührten die Werbetrommel. Mit Erfolg: Die Flensburger kamen in Scharen. Alle drei Shows: ausverkauft. Besucherzahl: 1.400. Finanzieller Verlust: null.

Die Zeitungen überschlugen sich vor Begeisterung. „Plötzlich hatten wir ein Alleinstellungsmerkmal. Wir waren die Schule, die Besonderes auf die Beine stellt.“ Ein Ruf, an dem sie bis heute arbeiten: Konzerte mit Musikern des Landestheaters, Sängerpatenschaften des Flensburger Musiktheaters, Projekte mit einem Wissenschaftsmuseum – Unterricht findet an der Waldschule längst nicht mehr nur im Klassenraum statt.

Für Marketing und Vertrieb ist seit dem Zirkusprojekt gesorgt. Nun musste nur noch das Produkt erneuert werden. Masuhr und sein Kollegium entschieden sich für den großen Umbau: Erste und zweite Klassen wurden zu jahrgangsübergreifenden Lernverbänden zusammengelegt. Im Rahmen einer Fortbildung lernten die Lehrer, wie man Unterricht mit mehr Eigenarbeit gestaltet. Lehrerteams entwickelten Kompetenzraster, die den Lernstand der Schüler dokumentieren. Mittlerweile tun diese das parallel sogar selbst: Ihr Heft mit dem Titel „Mein Lernweg“ zeigt auf, welche Ziele im laufenden Halbjahr erreicht werden sollen. Wer etwas gelernt hat, malt das entsprechende Kästchen aus. „Am liebsten würden wir die Noten ganz abschaffen“, sagt Volker Masuhr. Er weiß, dass das ein heikles Thema ist, ist sich aber sicher: „Eine detaillierte Dokumentation ist wertvoller als ein Zeugnis mit Noten.“ Weil sie Stärken und Schwächen eines Schülers aufzeige. Und kleine Erfolgserlebnisse möglich mache.

Die vielen Besucher, die heute durch die Flure gehen, können kaum glauben, dass die Waldschule mal eine Problemschule war. Die Türen vieler Klassenzimmer stehen offen – so beschwert sich nicht immer nur der Lehrer über Lärm, sondern auch mal die Nebenklasse. „Flüsterschule“ nennen sie das, und es funktioniert, weil der Unterricht durch eigenständiges Arbeiten geprägt ist. In der Pause streifen sich manche Schüler grüne Shirts über und verleihen Spiele oder verkaufen Brötchen. Nach dem Unterricht schlüpfen einige Viertklässler in die Rolle von Streitschlichtern: Sie laden Streitende zu Mediations-Gesprächen ein. Ein Amt, dem eine dreivierteljährige Ausbildung vorausgeht. „Wir haben uns davon verabschiedet, Wissen in Köpfe zu trichtern“, sagt Volker Masuhr. „Uns geht es um die Frage: Wie entwickeln wir Persönlichkeiten?“

* Name geändert